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Modernisierung

«Eine gesamte soziale Schicht wurde brüskiert»
Über die Gründe für die Dynamik der jüngsten Demonstrationen in Russland
Das Gespann Wladimir Putin (links) und Dmitri Medwedew. (Bild: Imago)
Das ungewohnte Ausmass der Proteste in Russland nach der Wahl haben ihren Grund auch in einer enttäuschten städtischen Mittelschicht, die ihre Anliegen in der Politik nicht mehr gewahrt sieht. Dies sei letztlich im angekündigten Ämtertausch zwischen Medwedew und Putin begründet, sagt der Politikwissenschafter Gerhard Mangott aus Innsbruck.

Stefan Reis Schweizer

Die ungewöhnlich heftigen Proteste in Russland nach der Wahl sind auch auf die Enttäuschung einer städtischen Mittelschicht zurückzuführen, die sich durch die Politik nicht mehr vertreten sieht.

«Die jüngere gebildete Mittelschicht, eher liberal denkend, hatte in diesen Wahlen erstmals keine Option, ihre eigenen Interessen sichtbar zu machen», sagt der Innsbrucker Politikwissenschafter Gerhard Mangott.
Nun Protest auch aus dem Mittelstand

Das verleihe den momentanen Protesten eine neue Qualität: «Es gibt eine Stimmung in der Bevölkerung, nicht mehr gehört und marginalisiert zu werden.» Es sei neu, dass diese Mittelschicht die Proteste mittrage.

Gerhard Mangott warnt davor, Dmitri Medwedew zu unterschätzen. (Bild: Böhm)

Den Grund dafür sieht Mangott auch im angekündigten Ämtertausch von Präsident Dmitri Medwedew und Ministerpräsident Wladimir Putin. Im Nachhinein wirke sich diese Ankündigung von Ende September fatal aus.
Zusätzlicher Unmut

«Denn damit kann Medwedew nicht mehr das leisten, was eigentlich seine Funktion in den vergangenen Jahren gewesen war: nämlich genau diese städtische Schicht an das Regime zu binden», sagt Mangott. Als Medwedew zudem noch verkündete, dass er diese Vereinbarung mit Putin schon vor vier Jahren getroffen habe, habe das für zusätzlichen Unmut gesorgt: «Eine gesamte soziale Schicht wurde brüskiert, die ihre Hoffungen auf Medwedew gesetzt hatte.»
Medwedew für Prüfung des Wahlergebnisses

(sda/dpa) Nach internationaler Kritik und Protesten gegen das Ergebnis der russischen Parlamentswahl hat sich Kremlchef Dmitri Medwedew überraschend für eine Überprüfung der Abstimmung ausgesprochen. Mögliche Wahlfälschungen müssten genauestens verfolgt werden, sagte er.

«Leider haben wir kein ideales Wahlsystem», sagte Medwedew bei einem Besuch in Prag. Mit Blick auf die kremlkritischen Demonstranten sagte er weiter: «Das sind Menschen, die wirklich enttäuscht sind, die (…) desorientiert sind.»

Die Bürger sollten die Möglichkeit erhalten, ihre Meinung zu sagen. Sie müssten dabei aber die Gesetze einhalten. Zugleich forderte Medwedew, die Lage müsse sich rasch beruhigen, damit die gewählten Parlamentarier ihre Arbeit aufnehmen könnten.

Den Einwand, dass Putin ohnehin über die grössere Machtbasis verfügt, will Mangott nicht gelten lassen. Sicherlich sei Medwedew im direkten Kräftemessen der Schwächere. Doch er sei durchaus einer, der regieren und der auch bleiben wolle: «Er hat vor allem verstanden, dass Modernisierung eines Landes mehr sein muss, als Putin propagiert, der auf technologische Innovationen und Staatskorperationen setzt.» Bei Putin sei in diesem Prozess allein der Staat der Akteur.
Mehr Raum für Zivilgesellschaft

Dagegen stehe Medwedews Ansatz, auch die Gesellschaft und das politische System zu liberalisieren und zu modernisieren und auch der Zivilgesellschaft mehr Raum zu geben. «Viele in Russland haben geglaubt, dass er das ernst meint. Und sie hofften auf eine Durchsetzung in einer zweiten Amtszeit Medwedews», sagte Mangott weiter.

Weiter bringt der Politikwissenschafter den gestiegenen Reichtum in Russland mit den Protesten in Zusammenhang: «Wohlhabendere Bürger lassen sich nicht mehr mit solchen kruden Instrumenten regieren, wie das vor Jahren vielleicht noch möglich war.»

Überhaupt sei es erstaunlich, wie man sich in der Führungsspitze Medwedew/Putin über die Reaktion auf die Wahl getäuscht habe: «Beide lassen die Stimmungen in der Bevölkerung beinahe täglich auf vielerlei Arten testen.» Diese Folgen habe man ganz offensichtlich nicht vorhersehen können.
Zur Person

Gerhard Mangott lehrt als Politikwissenschafter an der Universität Innsbruck. Ausserdem unterrichtet der 45-Jährige an der Diplomatischen Akademie in Wien. Schwerpunkte seiner Lehre und Forschung sind Russland, die Theorie der internationalen Beziehungen, Fragen der internationalen Sicherheit sowie die vergleichende Regimelehre.