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Archiv für den Monat Oktober 2011

http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/872076/publicationFile/54527/migration_afrika.pdf

ein Auszug:

„ Ausblick
Was kann die Weltgemeinschaft für Afrika tun?
Die Weltgemeinschaft versucht die Situation in der
Abwanderungsregion Afrika anhand verschiedener entwicklungspolitischer Maßnahmen zu verbessern. Erfolge stellen
sich aufgrund der problematischen Ausgangssituation auf dem
ärmsten Kontinent jedoch nur langsam ein: 230 Millionen Menschen leiden an Unterernährung und 380 Millionen Menschen
leben in Armut. Zu den Armutsphänomenen zählen Analpha-
124 Mit Ausnahme von Tunesien befinden sich alle nord-west-afrikanischen Länder,
die als Übertrittsland in die EU gelten, im unteren Drittel auf dem Korruptionsindex von Transparency International.Qualitative Einschätzung des Migrationspotenzials von Afrika nach Europa 191
betismus, hohe Kindersterblichkeit und die lokalen Krankheitsbilder, unter ihnen HIV/AIDS. Umfangreiche Hilfe in diesem
Bereich hätte vielfache positive Auswirkungen, so auf die Leistungsfähigkeit des jungen Erwerbspotenzials und die Ausbildung junger Frauen, die in Erwerbsarbeit eine Alternative zu
Frühheirat und Mutterschaft erkennen, denn diese behindern
und beenden häufig die berufliche Bildung von Frauen.
Die traditionellen Normen sind in Afrika in Auflösung
begriffen, ohne dass sich ausreichend neue Einstellungen herausgebildet hätten, die eine gesellschaftliche Modernisierung
befördern könnten. Ein industrielles Leistungsprinzip und
soziale Aufstiegsmöglichkeiten würden lokale und soziale Entwicklungshemmnisse, wie Patriarchat, streng hierarchische
Familienverhältnisse und Immobilität beseitigen. Der weithin
agrarische Kontinent kann Entwicklung nur aus einer abgestimmten Wirtschafts- und Umweltpolitik erlangen. Sie besteht
anfänglich aus regionaler Überlebenshilfe, die Nahrungsmittel
und medizinische Grundversorgung sicherstellt. Der nächste
Schritt ist Hilfe zur Selbsthilfe, wo bereits auf lokale Existenzgrundlagen und Humanressourcen zurückgegriffen wird und
Helfer und örtliche Kräfte kooperieren. Von da aus geht der
Weg zur eigentlichen Entwicklungsinvestition in Landwirtschaft und industrielle Verwertung ihrer Produkte. Wichtig ist,
dass die Produktion arbeitsintensiv verläuft und immer mehr
Menschen in ein neues Arbeitsleben und einen Mentalitätswandel einführt. Die Planung ökologisch tragbarer Produktionsstätten, bessere Gesundheitsversorgung und berufliche Bildung
für die nachwachsende Generation beiderlei Geschlechts sowie
Wissenstransfer zum Einsatz erneuerbarer Ressourcen sind somit wichtige entwicklungspolitischen Aufgaben.

von Michael Bünker. „Rosen statt Getreide“ – vom Hunger in der Welt

„Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet“, stellt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler fest. Während mehr als fünf Millionen Menschen in Äthiopien hungern, züchtet eine indische Firma dort auf riesigen Plantagen Rosen für Europa.

Das ist kein Einzelfall: Agrarunternehmen aus Industrie- und Schwellenländern weichen wegen der hohen Bodenpreise in ihrer Heimat zunehmend in Entwicklungsländer aus, auch ans Horn von Afrika. Derweil leidet die Bevölkerung dort unter einer Hungersnot epochalen Ausmaßes. Diese Ernährungskrise geht auf Dürre und Krieg zurück. Hunger gehört am Horn von Afrika zum Alltag, während er in Europa seine Schrecken verloren hat.

Der evangelisch-lutherische Bischof Michael Bünker spricht anlässlich des evangelischen Reformationstages über den Hunger in der Welt als Herausforderung und Anfrage an all jene, die von diesen ungerechten Strukturen profitieren.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Reformationstag. Als Martin Luther vor dem Kaiser gefragt wurde, ob er widerruft, sagt er nein, sein Gewissen sei im Wort Gottes gefangen. Stark und mutig, sich so allein hinzustellen und aller Welt standzuhalten. Eine Haltung, die auch heute dringend gebraucht würde. An die Nachrichten, dass am Horn von Afrika mehr als 11 Millionen Menschen akut unter Hunger leiden und unzählige Kinder sterben, hat man sich fast schon gewöhnt. Das Gewissen ist ruhig. Nur langsam sind die internationalen Hilfsaktionen angelaufen, obwohl diese Katastrophe bereits seit Langem vorausgesehen wurde. Die notwendigen Maßnahmen, von allen Fachleuten seit Jahren gefordert, sind über zwanzig Jahre nur halbherzig angegangen worden. Dazu gehört die nachhaltige Stärkung der lokalen kleinbäuerlichen Strukturen, verbessertes einheimisches Saatgut, Bodenschutz durch Aufforstung, Regenwassersammelbecken und vieles mehr. Die Dürrekatastrophe mag ein Schicksal sein – der Hunger ist es nicht.

Jean Ziegler fordert einen „Aufstand des Gewissens“. Er berichtet immer wieder von einem Erlebnis, das ihn in den frühen 1960er Jahren auf einen neuen Weg geführt hat. Er war als Mitglied einer internationalen Delegation im Kongo. Am Abend gab es in einem der wenigen noblen Hotels einen Empfang. Man stand beisammen und hatte gut zu Essen und zu Trinken. Jean Ziegler berichtet, dass er ans Fenster trat um in den Abend hinauszusehen und da die Gestalten sah, die von allen Seiten auf das Hotel zukamen. Es waren die Hungerleider der Stadt, die an die Abfälle wollten. Darunter viele Kinder. Trotz aller verzweifelten Anstrengung gelang es ihnen nicht, die Barrieren, die das Hotel abschirmten, zu überwinden. „Da beschloss ich“ – so Jean Ziegler – „nie wieder auf der Seite der Henker zu stehen“. Die Verantwortung lässt sich nicht abschieben. Es kommt auf jeden und jede an, da ist niemand, der nicht einen entscheidenden Beitrag leisten könnte.

http://videos.arte.tv/de/videos/arte_reportage-4231084.html
Artereportage: Aber wer sind diese Demonstranten, warum sind auf einmal nicht nur Studenten und junge Arbeitslose dabei, sondern auch mehr und mehr Vertreter der amerikanischen Mittelschicht? Der ARTE-Reporter Ralf Hoogestraat ist diesen Fragen nachgegangen.
Er traf auf gestandene Bürger, die Angst haben, dass der amerikanische Traum für sie und ihre Kinder vorbei ist. Junge Hochschulabgänger finden keine Arbeit und können ihre teuren Studien-Kredite nicht zurückzahlen. Und mehr und mehr New Yorker sind auf Lebensmittelspenden angewiesen, um eine Mahlzeit in den Bauch zu bekommen.
Die amerikanische Occupy-Bewegung hat die Stimmung im Lande aufgegriffen und könnte die Wahlen im nächsten Jahr beeinflussen.

 

Irlands neuer Präsident
Ein geistreicher Radikaler grüßt von der Insel
Martin Alioth, 30. Oktober 2011 19:49

Kapitalismuskritiker Michael Higgins wird irischer Präsident

In seiner ersten Ansprache nach der langwierigen Stimmenauszählung versprach der nächste Präsident Irlands, Michael D. Higgins, eine neue Epoche. Die Zeit, als der Wert eines Menschen an seinem Vermögen gemessen wurde, sei vorbei. Der „enge Individualismus“, der die Jahre des ungestümen Wirtschaftswachstums geprägt hatte, gehöre der Vergangenheit an, erklärte der Veteran der irischen Labour-Partei, der nach einem wenig erbaulichen Wettbewerb unter sieben Kandidaten und Kandidatinnen das deutlichste Wählermandat in der Geschichte der Republik erhalten hatte.

Fast die Hälfte seines Lebens verbrachte der Soziologe und Politikwissenschafter aus dem irischen Westen in verschiedenen Ämtern im Parlament. In den 1990er-Jahren diente er zeitweise als Kulturminister und gründete dabei das irischsprachige Fernsehen. Der inzwischen 70-jährige Higgins hatte sich stets für Menschenrechte in der Dritten Welt engagiert und dabei zahlreiche Kontakte geknüpft. Er entstammt dem – eher winzigen – linken Flügel seiner Partei, weshalb er in seinem konservativen westirischen Wahlkreis lange auf ein Wählermandat warten musste. Diese persönliche Geschichte erlaubte es Higgins, der in seiner Freizeit Gedichte auf Englisch und Irisch (Gälisch) verfasst, im Wahlkampf den Eindruck zu vermittelt, er sei mehr als ein Apparatschik der Labour-Partei, die zurzeit einen Teil der Regierungskoalition bildet.

Sein staatsmännisches – gelegentlich etwas bombastisches – Auftreten hob sich wohltuend vom großteils persönlichen Zank unter den restlichen Kandidaten ab. Der einstige Rebell bot so eine Zuflucht für zahlreiche Wähler, die seine politischen Ansichten keineswegs teilen.

Damit wiederholt sich gewissermaßen die irische Geschichte: Auch die progressive Rechtsprofessorin Mary Robinson wurde 1990 gewählt, obwohl ihre Meinungen von jenen der Mehrheit abwichen. In beiden Fällen aber kamen die Wähler zum Schluss, dass sie nach außen ganz gerne von einem geistreichen, radikalen Kopf repräsentiert werden wollen.

So versprach Higgins, der die Welt durch ein von Kultur geprägtes Prisma betrachtet, umgeben von seiner Gattin Sabina und seinen vier erwachsenen Kindern am Samstag eine „Präsidentschaft der Ideen“. Er wird sein Amt formell am 11. November antreten und im Palais des Präsidenten, Áras an Uachtaráin, im Dubliner Phoenix Park residieren. (Martin Alioth, DER STANDARD-Printausgabe, 31.10./1.11.2011)

http://derstandard.at/1319181618345/Irlands-neuer-Praesident-Ein-geistreicher-Radikaler-gruesst-von-der-Insel

Fünf Zivilisten bei kenianischem Luftangriff getötet
31. Oktober 2011 13:32
Zeugen: Bombe traf offenbar Essens-Ausgabestelle für Flüchtlinge

Mogadischu – Die Zahl der bei dem jüngsten Luftangriff der kenianischen Armee in Somalia getöteten Zivilisten hat sich auf fünf erhöht. Nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vom Montag erlagen nach dem Angriff vom Vortag zwei weitere Menschen ihren Verletzungen. Bereits am Sonntag hatte die Organisation von drei Toten gesprochen. Bei den Opfern handle es sich um drei Kinder, eine Frau und einen Mann, gaben die Helfer an. Insgesamt 44 Verletzte würden in einem Krankenhaus behandelt.

Bei dem Luftangriff war laut der Organisation ein Flüchtlingslager in der südsomalischen Stadt Jibil getroffen worden, in dem 9000 Kinder untergebracht sind. Die kenianische Armee erklärte hingegen, es sei ein Stützpunkt der Shebab-Milizen bombardiert worden. Dabei seien zehn Kämpfer ums Leben gekommen. In einer Mitteilung rief Ärzte ohne Grenzen die Konfliktparteien in Somalia dazu auf, „die Rechte von Zivilisten in dem Konflikt zu respektieren“.

Die kenianische Armee hatte Mitte Oktober Truppen über die Grenze nach Somalia geschickt und seither mehrfach Luftangriffe geflogen. Diese gelten der islamistischen Shebab-Miliz, die für die Entführung mehrerer Ausländer in Kenia verantwortlich gemacht wird

Auflockerung des Kündigungsschutzes
Italiens Arbeitsminister warnt vor Terrorgefahr
31. Oktober 2011 11:29

Wegen Gewerkschaftsprotesten gegen Auflockerung des Kündigungsschutzes

Rom – Pläne der Regierung Berlusconi zur Auflockerung des Kündigungsschutzes sorgen für Polemik in Italien. Nachdem die Gewerkschaften mit einem Generalstreik gegen das Mitte-Rechts-Kabinett gedroht haben, sollten im Rahmen eines neuen Konjunkturpakets die Kündigungsregeln für Unternehmen in der Krise aufgelockert werden, warnte Arbeitsminister Maurizio Sacconi vor der Gefahr einer neuen politischen Terrorwelle in Italien.

Die von Opposition und Gewerkschaften geführte Debatte sei „sprachliche Gewalt“, die leicht zu Anschlägen führen könne. „Ich habe nicht Angst um mich, denn ich bin gut geschützt, aber um Menschen, die es weniger sind“, sagte Sacconi in einem TV-Interview. Er hoffe, dass es nicht zu Morden wie jenen kommen werden, die den Arbeitsrechtsexperten Massimo D’Antona und Marco Biagi in den Jahren 1999 und 2002 das Leben gekosten haben. Sacconi warnte vor organisierter Gewalt in Italien. „Biagi ist vor neun Jahren erschossen worden, während in Italien eine ähnliche Diskussion über die Auflockerung des Kündigungsschutzes tobte“, meinte Sacconi.

Der Minister betonte, dass das neue Gesetz zur Lockerung des Kündigungsschutzes von der Europäischen Zentralbank (EZB) gefordert worden sei. Laut dem neuen Gesetz sollen Firmen in Krisenzeiten leichter Menschen entlassen können. „Es geht nicht darum, Unternehmern freie Hand bei den Kündigungen zu lassen, sondern mehr Flexibilität zu ermöglichen. Diese Flexibilität wird Unternehmen anregen, mehr Personal anzustellen. Heute verzichten viele Unternehmen darauf, ihr Personal aufzustocken, weil es für sie zu kompliziert ist, die Mitarbeiter in schwierigen Zeiten zu entlassen“, sagte Sacconi.

Die Opposition kritisierte den Minister für seine Worte scharf. Er solle nicht von Terrorismus sprechen, sondern sich eher aktiv für neue Arbeitsplätze einsetzen, so Oppositionschef Pierluigi Bersani. Olga D’Antona, oppositionelle Parlamentarierin und Witwe des 1999 ermordeten Massimo D’Antona, warnte Sacconi, es sei durchaus gefährlich, in der jetzigen Phase den Terrorismus ins Spiel zu bringen.

Susanna Camusso, Chefin der größten Gewerkschaft CGIL, drohte mit scharfen Protestaktionen gegen die Pläne der Regierung zur Auflockerung des Kündigungsschutzes an. Auch einen Generalstreik sei nicht ausgeschlossen. Auch die Gewerkschaften CISL und UIL könnten in einer für sie seltenen Einigkeit bei einem Generalstreik mitmachen. Die Gewerkschaften CGIL und UIL – zusammen etwa vier Millionen Mitglieder – wollten bereits am kommenden Freitag in Rom gegen Berlusconi demonstrieren. (APA)

http://derstandard.at/1319181646925/Auflockerung-des-Kuendigungsschutzes-Italiens-Arbeitsminister-warnt-vor-Terrorgefahr

UNESCO nimmt Palästinenser als Vollmitglied auf
31. Oktober 2011 14:11

Überraschung : Frankreich unterstützte Antrag – USA: „Verfrüht und kontraproduktiv“

Paris – Die Generalkonferenz der Erziehungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen (UNESCO) hat am Montag in Paris Palästina als Vollmitglied aufgenommen. Der Beschluss wurde gegen den Widerstand der USA, Israels und Deutschlands mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit der bisher 193 Mitgliedsländer gefasst. Frankreich, das sich im UNESCO-Exekutivrat noch der Stimme enthalten hatte, votierte für den Antrag.

USA: „Verfrüht und kontraproduktiv“

Die US-Delegation kritisierte den Beschluss der Generalkonferenz als „verfrüht und kontraproduktiv“. Die USA haben mit einem neuerlichen Stopp ihrer Beitragszahlungen an die UNO-Kulturorganisation gedroht. Dabei geht es um mehr als 50 Millionen Euro pro Jahr – 22 Prozent des Budgets der UNESCO. Der israelische Vertreter Nimrod Barkan hatte vor der Abstimmung erklärt, seine Regierung rechne damit, dass Palästina in die UNESCO aufgenommen werde. Er kündigte an, die israelische Regierung werde wahrscheinlich dem US-Beispiel folgen. Derzeit mache der israelische Beitrag rund drei Prozent des UNESCO-Etats aus. Bei einem Stopp der Zuwendungen aus den USA und Israel würde die Organisation „ein Viertel ihrer Mittel“ verlieren, betonte Barkan. „Dann wird sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können.“

In den vergangenen Tagen hatten Vertreter der USA und mehrerer europäischer Staaten vergeblich versucht, die Abstimmung zu verhindern. Trotz des Drucks lehnten es die Palästinenser ab, ihren Antrag zurückzuziehen. Präsident Mahmoud Abbas betonte noch am Donnerstag, für einen Verzicht gebe es „keinerlei Rechtfertigung.“ Der UNESCO-Exekutivrat hatte mit großer Mehrheit dafür gestimmt, den Aufnahmeantrag Palästinas der Generalkonferenz vorzulegen. Nur vier von 58 Exekutivrats-Mitgliedern – USA, Deutschland, Lettland und Rumänien – hatten gegen den palästinensischen Vorstoß votiert. 14 Staaten, darunter Frankreich, enthielten sich der Stimme. Österreich gehört dem Exekutivrat nicht an. Der palästinensische Außenminister Riad al-Malki hatte von „enormem Druck“ der USA auf verschiedene Mitgliedsländer gesprochen.

Die palästinensische Führung hat im September beim UNO-Sicherheitsrat in New York einen Antrag auf Vollmitgliedschaft eingereicht. Darüber soll am 11. November entschieden werden. Die USA wollen von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, um den Antrag zu Fall zu bringen. Bisher haben acht der 15 Mitglieder ihre Unterstützung für Palästina bekundet: Die Vetomächte Russland und China, sowie Indien, Brasilien, Libanon, Südafrika, Nigeria und Gabun. (AFP/APA)

http://derstandard.at/1319181666231/UNESCO-nimmt-Palaestinenser-als-Vollmitglied-auf

Milizen aus Misrata terrorisieren Zivilisten
Anti-Gaddafi-Kämpfer haben diesen Wegweiser nach Tawergha mit „Misrata“ übermalt.
Kämpfer verweigern Einwohnern Stadt Tawergha die Rückkehr in ihre Häuser

Anfang Oktober besuchte eine Delegation der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) mehrere libysche Städte. Der am Sonntag veröffentlichte Bericht erhebt schwere Vorwürfe gegen Milizen aus Misrata: Zivilisten sollen an der Rückkehr in ihre Häuser gehindert worden, einige sogar gefoltert oder ermordet worden sein. Vertreter des Übergangsrats sprechen sich für eine Umsiedlung der Einwohner der 30.000-Einwohner-Stadt Tawergha aus.

Ibrahim Beitelmal, Sprecher des Militärrates von Misrata, forderte im Gespräch mit AP, die Stadt zu zerstören: „Wenn es nach mir ginge, will ich diese Stadt nie mehr sehen, sie sollte nicht mehr existieren“. Beitelmals 19-jähriger Sohn starb im Kampf um Misrtata.

Laut HRW liegen glaubhafte Berichte vor, dass auf unbewaffnete Menschen aus Tawergha geschossen werde, zudem gebe es willkürliche Festnahmen und Gefangene würden brutal geschlagen. Die Milizen werfen den ehemaligen Einwohnern Tawerghas demnach vor, an der Seite von Gaddafis Truppen in Misrata Gräueltaten wie Vergewaltigungen und Morde verübt zu haben. Viele Bewohne der Stadt stammen von afrikanischen Sklaven ab.

Plünderungen

Bei ihren Besuch in der Stadt Anfang und Ende Oktober sahen die Mitglieder der Delegation, wie Milizen Häuser in Brand steckten und mit Lastwagen Möbel und Teppiche abtransportierten.

Die Stadt galt als Hochburg von Gaddafi-Anhängern und diente seinen Truppen auch als Basis für Angriffe auf Rebellen in Misrata. Als die Aufständischen Mitte August ihre Offensive in Richtung Tripolis ausweiteten, flohen die meisten der rund 30.000 Einwohner. Wer nicht freiwillig ging, wurde von den Milizen vertrieben.

HRW zitierte einen Milizenvertreter mit den Worten, den Vertriebenen dürfe „niemals die Rückkehr“ nach Tawergha erlaubt werden. Auch Ibrahim Yusuf bin Gashir, laut HRW Mitglied des Übergangsrates, sprach sich für eine Umsiedlung aus: „Man sollte sie nach Tripolis, Bengazi oder in den Süden bringen und sie für ihre Verluste in Tawergha entschädigen“, sagte er der Delegation, „diese Fälle können nicht vergeben werden, es wäre besser, sie weit weg anzusiedeln.“

Folter und Mord

Die Vertreter der Menschenrechtsorganisation sprachen mit zahlreichen Gefangenen, die von Übergriffen der Milizen aus Misrata berichteten. So sei ein 42-jähriger Müllwagenfahrer so lange geschlagen worden sein, bis er gestand, dreißig Frauen und ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Später erlag der Mann seinen Verletzungen. Ein psychisch Kranker wurde 45 Minuten lang mit einer Pferdepeitsche geschlagen, bis er tot war.

Im Wahda-Gefängnis in Misrata  sahen die Besucher, wie verletzte  Häftlinge spätnachts auf den Knien über den Hof rutschen mussten. Ein Wärter bezeichnete dies als „Abendsport“.

Der stellvertretende Vorsitzende des Stadtrats von Misrata, Sedik Bashir Bady, sagte der Delegation, man habe angeordnet, die Misshandlungen umgehend einzustellen – allerdings hielten sich die Kämpfer an keine Befehle: „Sie tun was sie wollen“.

Keine Behandlung für Bewohner Tawerghas

Im Spital von Misrata wurden laut mehreren übereinstimmenden Augenzeugenberichten Patienten die Behandlung verweigert, weil sie aus Tawergha stammen. Banken verweigern laut HRW Auszahlungen, wenn in den Ausweispapieren des Kunden der Name der Stadt eingetragen ist.

Kollektivstrafen

Bei der Belagerung Misratas im Mai und April beschoss die libysche Armee die Stadt mit Mörsern und Raketen und setzte Streubomben ein. Die Racheaktionen an den Bewohnern Tawerghas und die Deportationen stellen laut HRW aber Kollektivstrafen dar und sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

HRW erklärt, derlei Racheakte gefährdeten das „Ziel der libyschen Revolution“. Menschen aus Tawergha, denen Verbrechen vorgeworfen würden, müssten „gemäß dem Gesetz“ und nicht in Selbstjustiz zur Verantwortung gezogen werden. HRW rief die neue Regierung in Libyen dazu auf, die noch verbliebenen zahlreichen Bewaffneten in Misrata unter ein einheitliches Kommando zu stellen.

Der Aufstand gegen Gaddafi hatte Mitte Februar seinen Anfang genommen. Am 20. Oktober wurde er in seiner Geburtsstadt Sirte gefangen genommen und starb anschließend unter bisher ungeklärten Umständen. (red/APA)

http://derstandard.at/1319181617502/Milizen-aus-Misrata-terrorisieren-Zivilisten

Die schleichende Katastrophe: Jeder siebte Mensch hungert
VON MAXIMILIAN PLÜCK – zuletzt aktualisiert: 31.10.2011 – 02:30

Düsseldorf (RP). Im April 2008 brennen auf den Straßen von Port au Prince die Barrikaden. Nachdem die Nahrungsmittelpreise auf Haiti innerhalb von nur einem Monat um mehr als 50 Prozent angestiegen sind, bricht in der Hauptstadt und in anderen Orten auf der Karibikinsel eine Revolte aus. Autoreifen brennen, marodierende Banden ziehen plündernd durch die Straßen. Nur mit Mühe gelingt es den Sicherheitskräften nach Tagen, die Ordnung wiederherzustellen. Haiti ist nur ein Beispiel von rund 40 Ländern, die das Frühjahr 2008 in einen Gewaltstrudel stürzt: Im Zuge der damaligen Nahrungsmittel-Preisexplosionen kommt es zu Aufständen etwa in Guinea, Mauretanien, Marokko, Usbekistan, und Jemen. Der Hunger ist längst sicherheitspolitischer Faktor, Auslöser sozialer Unruhen und gewaltsamer Konflikte geworden.

Begreifen, wie brisant die Lage ist, lässt sich in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren nur schwer. Aufgerüttelt wird die westliche Öffentlichkeit höchstens, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt oder aber zu akuten Hungerkatastrophen wie derzeit am Horn von Afrika. Der ununterbrochene, schleichende Tod dagegen, der sich überwiegend auf der südlichen Erdkugel abspielt, bleibt weitestgehend unbeachtet.

Deshalb bemüht die Autorin Tanja Busse in ihrem Buch „Die Ernährungsdiktatur“ ein Beispiel: den globalen Mittagstisch. Die gesamte Welt nimmt an diesem Tisch Platz, um für eine Stunde zu Mittag zu essen. Von den sieben Milliarden Menschen, die sich um den Tisch scharen, würden zwei Milliarden zu viele Kilos auf die Waage bringen, vier Milliarden Menschen könnten als normal ernährt angesehen werden. Dem gegenüber säße eine Milliarde Menschen, die hungern – jeder Siebte am Tisch. Dauert das Essen nur eine Stunde, würden 4000 Unterernährte tot von ihren Stühlen sinken. Denn nach Angaben des World Food Programme der Vereinten Nationen (WFP) rafft der Hunger jährlich mehr Menschen dahin als Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen. Das Paradoxe: Niemals zuvor wurde so viel Nahrung produziert, gab es so viele dicke Menschen – und so viele hungernde.

Bei dieser Katastrophe handelt es sich nicht ausschließlich um eine Folge von Naturgewalten wie Dürren oder Überschwemmungen. Das WFP konstatiert: „Es gibt genügend Nahrung auf der Welt, um jedem ausreichend Nahrung zur Verfügung zu stellen.“ Es handelt sich um ein Versagen der Marktkräfte. Während der Norden insgesamt zu viel produziert, stellt der Süden zu wenig her. Zudem macht der Autor Wilfried Bommert in seinem Buch „Kein Brot für die Welt“ „ein unglückliches Zusammenspiel mehrerer Triebkräfte“ als Ursache aus, darunter die hohen Ölpreise, den ansteigenden Fleischkonsum in China und Indien sowie Spekulationen.

Ein zentrales Problem bleibt dennoch der Klimawandel. Nach Schätzungen des WFP werden 2050 durch ihn zusätzlich 24 Millionen Menschen von Hunger betroffen sein. Dürren, Überschwemmungen, Zyklone – sie sorgen schon heute dafür, dass die Landwirtschaft in den betroffenen Regionen immer schwieriger, teils sogar unmöglich wird. Nach einer Prognose des UN-Weltklimarats werden ausgerechnet die Länder von extremer Witterung betroffen sein, die zu den Entwicklungsländern zählen und ohnehin durch ihre wachsende Bevölkerung Schwierigkeiten bei der Versorgung haben. Das betrifft insbesondere die Gebiete südlich der Sahara.

Doch auch indirekt sorgt der Klimawandel dafür, dass sich der Hunger verschärft – und zwar von Menschenhand. Die Rede ist von der immer stärkeren Fokussierung auf regenerative Energien. Ethanol und Biodiesel, einst als klimafreundliche Alternative zur endlichen Ressource Erdöl gepriesen, geraten zunehmend in Verruf. Die einfache Gleichung der Kritiker wie Wilfried Bommert: Klimafreundlicher Sprit wird durch leere Teller erkauft. Denn auch die Anbaufläche ist eine begrenzte Ressource. Jedes Stück Land, das für Mais, Raps, Soja, Palmöl und Zuckerrohr zur Herstellung von Biosprit genutzt wird, fehlt zur Produktion von Nahrungsmitteln. „Ackerland wird zum Spekulationsobjekt des 21. Jahrhunderts“, meint Bommert. Noch beschränkt sich der Anbau überwiegend auf Europa und die USA. Allerdings sind die Biosprit-Ziele der Industrienationen so ehrgeizig, dass sie die Rohstoffe für ihren Sprit bald importieren müssen. Das Nachsehen haben die Kleinbauern. 85 Prozent der heute 525 Millionen Bauernhöfe weltweit haben weniger als zwei Hektar Land. Die Welthungerhilfe warnte jüngst bei einer Anhörung im Bundestag vor dem sogenannten „Landgrabbing“. Der Begriff bedeutet nichts anderes, als dass die Kleinbauern enteignet werden. Problem nur: Derzeit sind die Kleinbauern laut UN für 70 Prozent der Nahrungsmittelproduktion verantwortlich.

Und es droht noch von anderer Seite eine Verschärfung: durch die wachsende Fleischnachfrage. Aufstrebende Nationen wie China und Indien passen sich den westlichen Gebräuchen an: Fleischverzehr als Statussymbol. Konnten die Landwirte bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts fast gänzlich auf das Füttern von Getreide verzichten, hat sich dies mit der Hochleistungstierzucht geändert. Nahrungskonkurrenz zwischen Tier und Mensch.

Trotz all dieser Probleme reißen die Bemühungen im Kampf gegen den Hunger nicht ab. 2000 folgten zahlreiche Delegationen der Einladung des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan, um mit den „Millenniumszielen“ die Welt zu verbessern. Die Delegierten versprachen, bis 2015 den Anteil der Unterernährten an der Weltbevölkerung auf zehn Prozent zu drücken. Kaum jemand glaubt heute angesichts von 14,3 Prozent noch daran, dass sich dieser Wert erreichen lässt. Erst im Februar kletterten die Nahrungsmittelpreise nach Angaben der Welternährungsorganisation über den Höchstwert der Lebensmittelkrise von 2008.

http://nachrichten.rp-online.de/politik/die-schleichende-katastrophe-jeder-siebte-mensch-hungert-1.2534716

  • 31.10.2011

US-Soziologin über Occupy-Bewegung

„Niemand will Arbeiterklasse sein“

Die neue Protestbewegung ist ein Mittelschichtphänomen. Noch. Die US-Soziologin Frances Fox Piven über echte Armut, alte und neue Feindbilder und innovative Strategien des Protests.Interview Dorothea Hahn

„Die extreme Ungleichheit in den USA wächst seit mehr als 30 Jahren.“ Bild: reuters

taz: Frau Fox Piven, Sie schreiben schon lange, dass die USA politisches Engagement und eine Mobilisierung der Armen brauchen. Ist das der Moment, auf den Sie gewartet haben?

Frances Fox Piven: Es ist auf jeden Fall der Moment des Protests von sehr großen Teilen der Bevölkerung. Aber es ist noch unklar, ob die 50 Millionen Armen in den USA mitmachen werden. Bislang sind sie zwar einbezogen, aber spielen keine herausragende Rolle.

Wovon hängt das ab?

Der Widerstand gegen Zwangsvollstreckungen könnte die Aufmerksamkeit auf jene lenken, denen es am schlechtesten geht. Ich hoffe, dies gelingt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Proteste die Sprache vergangener Jahrzehnte wiederholen. Die Mittelschicht stand im Zentrum, und die Armen wurden weiter marginalisiert.

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Warum ist die Mittelschicht und ihr „amerikanischer Traum“ so zentral?

Wir sind eine sehr verbraucherorientierte Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zur Mittelschicht geht einher mit einem hohen Konsumniveau. Die Leute imitieren die Wohlhabenden in ihrem Konsumentenverhalten. Das ist in den USA möglich, weil massenproduzierte Güter relativ billig sein können. Die USA sehen sich gern als eine sehr mobile Gesellschaft.

FRANCES FOX PIVEN, 79, lehrt Soziologie an der City University in New York. Ihr Forschungsschwerpunkt sind soziale und Jugendbewegungen, Armut und Sozialpolitik in den USA. Die US-Amerikanerin ist Mitglied der Democratic Socialists of America. 1966 hat Fox Piven zusammen mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann in einem viel beachteten Aufsatz die Abschaffung der Armut mithilfe eines Mindesteinkommens für Arme vorgeschlagen.

Für radikale Rechte ist diese „Piven-Cloward-Strategie“ fast ein halbes Jahrhundert später immer noch ein rotes Tuch. Im vergangenen Winter hetzte der TV-Journalist Glenn Beck gegen die Verfassungsfeindin“ und „Kommunistin“, worauf Fox Piven anonyme Morddrohungen bekam.

Ist diese Mobilität nicht real?

Es gehört zum kulturellen amerikanischen Mythos, dass Leute als Hausierer beginnen und als Eigentümer von Handelsketten enden. Tatsächlich gibt es bei uns heute keine größere vertikale Mobilität als in den wohlhabenden europäischen Gesellschaften. Und auch in der Vergangenheit sind in den USA nur wenige tatsächlich die Leiter nach oben gestiegen.

Die Occupy-Bewegung spricht von sich selbst als den „99 %“. Das signalisiert Offenheit nach fast allen Seiten. Birgt es auch die Gefahr der Verwässerung?

Es gibt ein gewisses Risiko, und der Slogan ist auch nicht ganz akkurat. Denn tatsächlich ist es den „Top 10 Prozent“ sehr gut ergangen. Aber mich beunruhigt mehr, dass die Unbekümmertheit und sprachliche Aufgeschlossenheit von jenen ablenken könnte, die am stärksten leiden. Andererseits ermöglicht der Slogan, die Hand nach allen möglichen Unterstützern auszustrecken. Nach Leuten, die nur ein mittleres Einkommen haben oder weniger und die sich selbst mit den 99 Prozent identifizieren können. In den USA will niemand Arbeiterklasse sein.

Schließt der Slogan „Wir sind die 99 %“ auch die Mitglieder der rechten Tea Party ein?

Auf der Liberty Plaza (Zuccotti Park) in New York sind mehrfach Tea-Party-Leute aufgekreuzt. Aber ihnen geht es definitiv besser als den durchschnittlichen amerikanischen Familien.

Sie sehen keine Parallelen zwischen Tea Party und Occupy-Bewegung?

Die Bewegungen sind sehr unterschiedlich: demografisch, ökonomisch wie kulturell. Tea Party-Leute sind weiß, älter und in der Regel Eigentümer ihres Hauses. Die meisten wuchsen in einer Zeit auf, als die USA sich als weiße Nation verstanden und die US-Flagge über weiten Teilen der Welt flatterte. Diese Leute sind ängstlich. Aber ihre Ängste sind nicht wirtschaftlicher Natur.

Die Protagonisten der Occupy-Bewegung sind zur Zeit des Mauerfalls und des Zusammenbruchs der Sowjetunion zur Welt gekommen. Ergibt das Verschwinden des alten Feindbildes neue Freiheiten in den USA?

Jetzt haben wir dafür Terroristen, die unter jedem U-Bahn-Sitz lauern. Nach 9/11 haben die Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen in den USA enorm zugenommen. Sie werden jetzt dafür eingesetzt, Proteste zu überwachen.

Die Occupy-Bewegung reagiert auf ökonomische und soziale Ungleichheiten, die seit Jahren existieren.

Die extreme Ungleichheit in den USA wächst seit mehr als 30 Jahren. Aber im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz beschleunigt. Die Armut hat stärker zugenommen. Dann kam die Rezession dazu, die in Wirklichkeit mit einer finanziellen Panik begann. Als Erstes hat Wall Street ein großes Rettungspaket verlangt – und bekommen. Als Zweites begann eine Austeritätspolitik sowie die Konzentration auf die Schulden. Dann stellten die Leute fest, dass die Steuern für Unternehmen und insbesondere für finanzielle Transaktionen in den vergangenen 40 Jahren kontinuierlich gesunken sind.

Wieso ist die Protestbewegung gerade in diesem Herbst entstanden?

Schwer zu sagen. Aber für mich wäre es noch überraschender gewesen, wenn nichts passiert wäre. Alle Zeichen stehen auf Sturm: Auf der einen Seite wächst das wirtschaftliche Elend. Eine unglaubliche Anzahl von Häusern stehen „under water“ [haben einen geringeren Marktwert als die Hypotheken, die auf ihnen lasten, d. Red.]. Die mittleren Löhne sinken. Und die Arbeitslosigkeit rangiert in zweistelliger Größenordnung. Andererseits haben die Banken ihre Verluste vom Anfang der Finanzkrise nicht nur ausgeglichen, sondern sie machen jede Menge Profit. Das ist Elend, kombiniert mit der Ungerechtigkeit bei der Verteilung des Elends. Es kommt hinzu, dass die Leute auf eine bestimmte Gruppe weisen können, die verantwortlich ist und sowohl die Wirtschaft als auch das politische System bestimmt.

Welche Rolle spielt die Präsidentschaft von Barack Obama bei der Genese der Proteste?

Wenn überhaupt, dann hat Obamas Präsidentschaft das Ausbrechen der Proteste verzögert. Die Leute haben sehr viel von ihm erwartet. Doch er erwies sich als ein Politiker, der sehr schnell dem Druck nachgegeben hat. Und der teilweise diesen Druck sogar selbst erzeugt hat, indem er sich mit Republikanern und mit Clintonites umgab, deren Orientierung nichts mit den Versprechen seiner Kampagne zu tun hat. Obama war eine Enttäuschung. Insbesondere für junge Leute. Und für Minderheiten.

Wie stark haben die Proteste von Ägypten bis Spanien die Occupy-Bewegung in den USA beeinflusst?

Protestbewegungen in verschiedenen Nationen haben sich immer gegenseitig beeinflusst. Schauen Sie sich 1968 an: Das gab es weltweit. Aber ich denke, es hätte in den USA auch ohne Tunesien und ohne Ägypten Proteste gegeben. Was Tunesien und Ägypten hingegen beeinflusst haben, ist die Strategie der Proteste. Platzbesetzungen sind eine gute Neuerung bei Protesten. Es ist einfach für die Obrigkeit, eine Demonstration oder eine Kundgebung auszusitzen. Aber es ist schwer, eine Besetzung auszusitzen.

Würden Sie diese Bewegung revolutionär nennen, wie manche Besetzer behaupten?

Sie wollen nicht zu den Waffen greifen oder Barrikaden bauen, sondern die Gesellschaft total umgestalten. Viele Protestbewegungen denken an eine Umgestaltung und bekommen Reformen. Wie umfassend die Umgestaltung wird, hängt davon ab, wie die amerikanischen Eliten auf diese Bewegung antworten. Und das ist extrem schwer vorherzusagen. Die amerikanische Oberschicht ist so individualistisch geworden, so unzusammenhängend und zersplittert. Es scheint, als würde sie nicht einmal mehr dafür sorgen wollen, die Institutionen zu reproduzieren, die sie zu der Führungsschicht gemacht haben. Es ist unglaublich, dass man Schulen und Lehrer mit enormen Haushaltskürzungen attackiert. Eine Führungsschicht, die auf ein langes Leben für sich, ihre Kinder und Enkel in diesem Land hofft, würde nicht so kurzsichtig und räuberisch sein.

Wie ordnen Sie die Bewegung ideologisch ein?

Als radikale Demokraten und Postanarchisten. Sie praktizieren direkte Demokratie. Das ist langwierig und mühsam. Aber sie tun es. Daraus kann ganz gewiss nur Gutes entstehen. Ich schätze das sehr. Auch wenn ich selbst nicht diesen Weg wählen würde, weil ich ihn schwierig und frustrierend finde.

Wird der Winter die Besetzungen beenden?

Die Bewegung muss ihre Taktiken ändern.

Wie lange kann sie durchhalten?

Die Bürgerrechtsbewegung hat 14 bis 15 Jahre gedauert. Die Arbeiterbewegung, die sich 1933/ 34 explosionsartig ausbreitete, hat ebenfalls rund ein Dutzend Jahre angehalten. Bewegungen haben eine Lebenszeit. Zum Teil, weil Leute etwas von dem bekommen, was sie verlangen, und zum Teil, weil die Energie, die eine Bewegung erfüllt, schrumpft. Wenn wir diese Bewegung zehn oder zwölf Jahre hätten, wäre das ein Segen.

Im November 2012 wählen die USA einen neuen Präsidenten. Welchen Einfluss werden die „99 %“ haben?

Wahlen sind Propagandaschlachten. Sie hängen von Kampagnen-Beiträgen ab. Und von allen möglichen Scharaden. Aber diese Bewegung hat schon jetzt die Debatte verschoben. Das Hauptthema ist jetzt die wirtschaftliche Ungleichheit. Das ist eine echte Leistung.

Ist die Occupy-Bewegung eine Unterstützung oder eine Bedrohung für Barack Obama?

Beides. Obama muss sich nach links bewegen. Um seine Kernwählerschaft zu halten. Und das wird wiederum viel Skepsis gegen ihn auslösen. Die Bilanz ist vermutlich eher positiv für ihn. Aber es ist heikel. Und ich bin sicher, er wäre froh, würde das alles aufhören.