BILDUNGSPROTESTEChiles Studentenbewegung steht vor Radikalisierung
Chiles bekannte Studentenführerin Camila Vallejo ist entmachtet. Ihr Nachfolger Gabriel Boric gilt als radikaler Systemgegner.
© dpa/Ariel Marinkovic
Studenten bei einer Demo für kostenfreie Bildung in Santiago de Chile Ende November
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich derzeit eine Nachricht in Chiles Hauptstadt Santiago: „Camila Vallejo hat verloren!“, heißt es in den TV- und Radiosendern. Die Titelseiten der Zeitungen verkünden den „traurigsten Tag“ oder die „schwere Niederlage“ der Studentenführerin. Oder besser: der früheren Studentenführerin. Denn Vallejo, bisher das Gesicht der seit sieben Monaten für kostenlose Bildung protestierenden Jugendbewegung Chiles, gehört nun nicht mehr deren Führungszirkel an.
Der Grund: Die 23-Jährige hat die Studentensprecher-Wahl derUniversidad de Chile gegen ihren Konkurrenten Gabriel Boric verloren. Mit einem hauchdünnen Vorsprung von 189 Stimmen landete der vor Camila Vallejo. Sie ist nun nur noch seine Stellvertreterin.
Der Wechsel an der Spitze der Studentenschaft der Universidad de Chile hat Konsequenzen, die weit über die Hochschule hinausreichen. Denn durch ihre Abwahl gehört Vallejo automatisch nicht mehr zur chilenischen Studentenvereinigung Confech, dem Leitgremium der gesamten Jugendbewegung. Den Platz der ehemaligen Studentenführerin nimmt nun ihr Nachfolger Boric ein. Dessen erste Tage als Studentensprecher zeigen deutlich: Die chilenische Jugendbewegung könnte vor einem Richtungswechsel stehen. Wissenschaftler und Journalisten sprechen einstimmig von der drohenden Radikalisierung des Protests. Denn Boric propagiert die Abkehr vom Weg der Verhandlungen mit den Politikern, den die Studentenführer in den letzten Monaten eingeschlagen haben.
Um ihre Forderungen nach kostenloser Bildung durchzusetzen, hatten sie jüngst verstärkt den Dialog gesucht. Mit sachlichen Reden im Parlament warben die Studenten für eine Erhöhung der Bildungsmittel im Haushalt. Immer wieder fanden Hintergrundgespräche mit Politikern aus Regierung und Opposition statt. Nach und nach trug diese Strategie Früchte. Das Kabinett um Präsident Sebastian Piñera versprach mehr Geld für Bildungseinrichtungen und schrittweise Vollstipendien für die ärmsten 60 Prozent der Bevölkerung. Der vor mehr als einem halben Jahr entbrannte Konflikt zwischen den Jugendlichen und der Regierung schien sich zu entspannen.
Für diesen Weg der Verhandlungen stand Camila Vallejo wie keine Zweite. Zwar verteidigte sie stets die Maximalforderung der Jugendlichen, dass Bildung „für alle kostenlos“ sein müsse und sich nicht auf einzelne Bevölkerungsteile reduzieren lasse. Dennoch führte sie immer wieder Gespräche mit Regierung und Opposition und arbeitete eng mit sozialistischen und kommunistischen Politikern zusammen. Vallejo ist selbst aktiv in der Jugendorganisation der kommunistischen Partei, deren Chef Guillermo Teillier gilt als ihr politischer Ziehvater.
Genau diese Nähe zur Parteipolitik sei der entscheidende Grund für Camila Vallejos Wahlniederlage, sagen viele Studenten in Santiago. Denn zahlreiche Protestler lehnen das politische System des Landes und die Parteien gänzlich ab. „Wir wollen uns von niemandem repräsentieren lassen, der selbst schon fast ein Parteipolitiker ist“, erklärt etwa Jonathan, einer der Besetzer der Universidad de Chile. Deswegen hat der Biochemie-Student seine Stimme Gabriel Boric gegeben.
Der angehende Jurist, der nun für die Studenten der Universidad de Chile spricht, gilt zwar wie Camila Vallejo als politisch links. Anders als die Parteiaktivistin wendet Boric sich aber offen gegen das chilenische System. „Unsere Gegner sitzen in der Regierung und im Parlament“, erklärte er nach seiner Wahl. Die chilenische Politik sei in einen „Mantel aus Heuchelei“ gehüllt. Eine weitere Zusammenarbeit mit Parlamentariern zur Lösung des Studentenkonflikts lehnt er kategorisch ab.
Inwieweit sich die radikale Ausrichtung des neuen Sprechers der Universidad de Chile auf die gesamte Jugendbewegung auswirkt, hängt davon ab, ob und wie viele der übrigen sieben Mitglieder des studentischen Führungszirkels seinem Kurs folgen werden. Am Freitag treffen sie sich mit Bildungsminister Felipe Bulnes zu Gesprächen über die Ausweitung der Stipendien. Noch setzen die Jugendlichen also auf Verhandlungen.che
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